– Die Geschichte der beiden Kreuze –
Ein Bericht über die verborgene Grabstätte im Wilhelmshagener Schützenwäldchen
Wer einen Spaziergang durch das Schützenwäldchen macht, erblickt ein schlichtes Balkenkreuz. An dem Kreuz erinnert eine Gedenktafel an 17 Wilhelmshagener, die zwischen dem 21. und 23. April 1945 verstorben sind. Sie wurden im Schützenwäldchen begraben.
Die Überschrift der Tafel lautet:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen … “
Sie ist einem Gedicht von Dietrich Bonhoeffer († 1945, im KZ Flossenburg hingerichtet) entnommen.
Die Namen der Toten:
Erna Tannhäuser, Eva Tannhäuser, Karin Tannhäuser, Bruno Stabo (ital.), Elfriede Ziegenhagen, Helmut Ziegenhagen, Hildegard Strohbusch, Valeska Strohbusch, Anna Strohbusch, Hildegard Kielau, Heinrich Hehlert, Emma Thürling, Hans Alscher, eine unbekannte Frau und zwei unbekannte Männer. In memoriam Herr Gustav Kleint, verstorben am 22. April 1945.
Ich konnte keinen Hinweis auf die letzte Ruhestätte meines Lehrers Herrn Kleint finden. War er einer der beiden unbekannten toten Männer?
Wir wohnten in der heutigen Schönblicker Straße, Ecke Weichselmünder Weg. Ich war damals acht Jahre alt. Meine Freunde waren die gleichaltrigen Kinder Renate Neumann (heute Frau Paschke), Günter Putzke († 1983 durch Suizid), beide wohnten im Weichselmünder Weg, Helmut Ziegenhagen († 1945 Tod durch Kopfschuss), der am Anfang der Behelfsheimstraße, rechte Seite, wohnte, Dieter Koßnick († 1945 Tod durch Luftangriff), das Haus der Familie stand in der Hochlandstraße, nahe der Bahnstrecke. Manchmal gesellte sich die damals 11-jährige Anneliese Kruse zu uns, die rechts neben dem Haus von Herrn Dr. Krakow in der Schönblicker Straße wohnte.
Von den in jenen Tagen im Schützenwäldchen begrabenen Wilhelmshagenern kannten wir die Familien Tannhäuser, Strohbusch und Ziegenhagen, einschl. Bruno. Sie alle wohnten in der Nähe unseres damaligen Hauses. Mit dem Lehrer Herrn Kleint, der in der Moltkestraße (heute Eichbergstraße) wohnte, war mein Onkel Karl Perschke aus der Langfuhrer Allee 23 befreundet.
Im Namen der Toten und in meinem eigenen Namen danke ich Frau Pfarrerin Scheufele für die guten und mitfühlenden Worte, die sie bei der Einweihung und Segnung der Stätte am 7. Oktober 2010 für die Toten fand.
Ein herzliches Dankeschön auch an Frau Neuse, der Leiterin des Wilhelmshagener Gemeindebüros, an Herrn Neuse, dem wir die Gedenktafel verdanken, an Herrn Peth, den Revierförster, der das Kreuz an authentischer Stelle aufstellen ließ, an Frau Knoop, Senatsverwaltung für Kriegsgräber, an Herrn Kowalke vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und an Herrn Uhrland – damals 11 Jahre alt – der sich auch an die Stelle erinnerte, an der das erste Holzkreuz stand.
Mein Wissen beruht auf der eigenen Erinnerung und auf der Erinnerung an die Antworten, die meine Mutter auf meine Fragen gab. Hinzu kamen die Erinnerungen meines befreundeten Nachbarn Klaus Uhrland und eine Durchsicht aller Urkunden, handschriftlichen Aufzeichnungen und Registrierungen, die mir das Ev. Gemeindebüro zu den Todesfällen von 1945 zur Verfügung stellte.
Die Holzhäuser der „Siedlung am Walde“ – Behelfsheime – dienten Berlinern, die ausgebombt waren, als Unterkunft. Am Bau der Siedlung waren Italiener beteiligt (Antifaschisten), die nach einem Aufstand gegen Mussolini gefangen genommen worden waren.
Zu ihnen gehörte auch Bruno, der mit Helmuts Mutter, Elfriede Ziegenhagen, befreundet war. Mit Helmut traf ich mich oft nachmittags. Wir spielten im Bereich Behelfsheimstraße, Wilhelmstraße (heute Schönblicker Str.) und Weichselmünder Weg.
ln den Spielpausen unterhielten wir uns, vertrauten einander auch Kindergeheimnisse an. Helmut erzählte mir, dass Bruno nachts auf dem Grundstück ihres Behelfsheimes einen Erdbunker baue. Wenn die Russen kämen, würde geschossen werden, und die Holzwände würden keine Sicherheit bieten. Die Behelfsheime waren nicht unterkellert. Helmut, seine Mutter und Bruno wären aber im Erdbunker geschützt. Auch ich könne mit ihnen dort das Ende der Kämpfe abwarten. Seine Mutter und Bruno würden mich ja kennen und wären bestimmt einverstanden. Ich wollte aber lieber zu Hause bleiben und hätte auch nichts anderes gedurft.
Ich habe Helmut nicht nach dem Zugang zum Bunker gefragt. Dieser könnte sich getarnt im Garten befunden haben. Denkbar wäre aber auch ein Umbau der Vertiefung im Fußboden des Behelfsheimes, in der sich die Wasserverbrauch-Zähler und der Haupthahn befanden. Dort stellte Frau Ziegenhagen auch Saft für uns kalt. Das wäre eine gute Tarnung des Bunkerzugangs gewesen. Eine dritte Möglichkeit: Bruno und Elfriede Ziegenhagen haben in Anwesenheit von Helmut von der Absicht gesprochen, den Bunker zu bauen und Helmut hat dann sehr realistisch über das Vorhaben gesprochen. Entscheidend für den Irrtum der Russen waren die Stahlhelme und Brunos grüné, italienische Uniform ohne Rangabzeichen, die er stets trug. Die Russen kannten diese Uniform wahrscheinlich nicht und mussten sie für die Uniform einer Einheit der deutschen Wehrmacht halten.
Zu den befürchteten Kämpfen ist es in Wilhelmshagen nicht gekommen.
Helmut, Frau Ziegenhagen und den Italiener habe ich nach dem Einmarsch der Russen nicht mehr gesehen.
Als ich meine Mutter nach Helmut fragte, teilte sie mir ernst mit, dass seine Mutter und Bruno nicht mehr am Leben wären.
Das erste Kreuz
Als am 21. April 1945 eine russische Patrouille von der Fürstenwalder Allee kommend die Häuser rechts und links der Wilhelmstraße überprüfte, bog sie auch links in die Behelfsheimstraße ein, um dort evtl. stichprobenartig die Holzhäuser zu kontrollieren.
Sie erschossen Elfriede, Bruno Stabo und Helmut wahrscheinlich, weil sie deutsche Stahlhelme trugen, denn sie rechneten wie alle anderen Wilhelmshagener mit Kampfhandlungen. Ein tragischer Irrtum, aber ein Verhalten, das dem Selbstschutz der Patrouille diente.
Mein Großvater, der an unserem Gartentor stand, sah, dass sie aus der Behelfsheimstraße zurückkommend, ihnren Weg die Wilhelmstraße entlang fortsetzten. Sie kamen zu unserem Haus.
Im Luftschutzkeller unseres Hauses in der Schönblicker Str. 77 (damals Wilhelmstr. 64) hoben wir alle die Hände. Einer der Soldaten mit Stahlhelm kam auf mich zu, drückte meine Hände langsam nach unten, sah mich an und schüttelte den Kopf.
Sie fragten, ob sich Soldaten im Hause befänden, nahmen den Erwachsenen „Uri, Uri“ ab, ließen ihnen aber Eheringe und Ohrringe. Bevor sie das Haus verließen, warnten sie auf Deutsch vor den nachrückenden Truppen.
Ich fragte dann später meine Mutter, wo sich Helmuts Grab befinde, denn ich kannte den Wilhelmshagener Friedhof und wollte das Grab besuchen. Meine Großmutter, Emma Perschke, pflegte dort das Grab ihrer Mutter, Friederike Bartel; sie nahm mich oft dorthin mit. Helmut, seine Mutter und Bruno wurden jedoch nicht auf dem Friedhof, sondern im Schützenwäldchen begraben. ln der Namensliste des Archivs der Ev. Kirche „Massengrab am Schützenwäldchen“ von 1945 wird das Kind Helmut Z. als „Herr Ziegenhagen“ geführt. Wir waren gleichaltrig. Der Irrtum könnte entstanden sein, weil er einen Stahlhelm trug, als er starb.
Im Archiv der Ev. Kirche befinden sich die Namensliste und die Sterbeurkunden von 15 Wilhelmshagenern, die in jenen Apriltagen umkamen und dort in Splittergräben beerdigt werden mussten. Hinzu kamen zwei unbekannte Männer, deren Namen nicht festgestellt werden konnten.
Die Namensliste sowie die Sterbeurkunden hat damals, in der Notsituation, der Friedhofsverwalter Herr Berthold Hauff aus der Kirchstraße 6 angelegt. Er hat auch in den Sterbeurkunden die Todesursachen vermerkt.
Die Toten wurden bei der Bestattung in Decken oder Teppiche gehüllt. Särge standen nicht zur Verfügung. Der kriegsgefangene Bruno Stabo wurde in seiner grünen Uniform ohne Rangabzeichen, die er auch bei der Arbeit trug, begraben.
Am Rand der Grabstätte befand sich ein hohes Kreuz aus zwei Balken, das nach einer Reihe von Jahren etwa auf halber Höhe nach innen umbrach. Der obere Teil des Kreuzes mit Querbalken wurde nach einiger Zeit entfernt.
Als das Kreuz noch stand, befand sich etwa in Kopfhöhe Erwachsener eine Holztafel mit den Namen der dort bestatteten Toten. Die Namen konnte ich wegen meiner starken Kurzsichtigkeit nicht lesen. Ich bekam erst 1947, nach meiner ersten schulärztlichen Untersuchung, eine Brille. Als mir meine Mutter die Namen vorlas, wusste ich, dass ich Helmut, Bruno, Frau Ziegenhagen und Herrn Kleint nie wiedersehen würde.
Mein ehemaliger Nachbar, Herr Klaus Uhrland aus Wilhelmshagen, erzählte mir, dass die Toten auf Weisung des Arztes Herrn Dr. Krakow, Wilhelmstraße, kurzfristig, meistens in Teppiche gerollt, bestattet wurden, um der Seuchengefahr vorzubeugen. Ein ehemaliger Splittergraben im Schützenwäldchen diente als Grabstätte.
Wahrscheinlich wurden aus dem gleichen Grund gefallene Russen auf dem Platz vor der Südseite der Taborkirche vorübergehend beigesetzt. Herr Dr. Krakow richtete neben seinen Praxisräumen eine Krankenstation ein, in der er seine ca. 20-jährige Tochter Gisela und deren Freundinnen unterbrachte. An die Außenseite der Tür soll er ein Schild in deutscher und russischer Sprache angebracht haben mit der roten Aufschrift: „Seuchenstation“. Dieser Raum wurde von den Russen nicht betreten.
Zusammen mit Herrn Strohbusch errichtete Klaus Uhrland, damals 11 Jahre alt, um die Grab-stätte im Schützenwäldchen einen niedrigen Holzzaun, den beide in den folgenden Jahren regelmäßig ausbesserten.
Herrn Strohbuschs Ehefrau und seine beiden Töchter waren durch Suizid nach Vergewaltigungen durch russische Soldaten umgekommen und auch dort bestattet worden.
Das gleiche Schicksal erlitten Frau Tannhäuser und ihre beiden Töchter.
Diese Qualen wurden leider vielen Frauen und Mädchen zugefügt. Dabei handelte es sich keineswegs um einen Bestandteil des Verteidigungskrieges der Sowjetunion, sondern um ganz gewöhnliche, oft in Gruppen und unter Alkoholeinfluss ausgeübte kriminelle Straftaten.
Viele russische Soldaten lehnten diese Grausamkeiten gegen schutzlose Zivilbevölkerung ab. Es gab russische Soldaten und Offiziere, die auf eigene Verantwortung gegen exzessive, sinnlose Grausamkeit gegen Deutsche einschritten. Das tat in Ostpreußen auch mehrfach der damalige Major Lew Kopeljew.
Er wurde wegen „bürgerlich humanitärer Einstellung in Form von Mitleid mit den Deutschen zu Lagerhaft für alle Zeiten“ verurteilt. Tatsächliche Haftdauer von 1945 bis 1955. (Vgl. Lew Kopeljew: „Aufbewahren für alle Zeit“). Auch er ist in meinen Augen ein Kriegsheld.
Herr Strohbusch und Herr Tannhäuser erfuhren erst nach ihrer Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft von dem schlimmen Schicksal ihrer Familien.
Die Mutter von Herrn Uhrland, Herr Uhrland selbst und später auch seine Frau Roswitha haben viele Jahre lang die Grabstätte betreut, auch Blumen gepflanzt und gegossen. Das Wasser musste vom eigenen Grundstück mitgebracht werden.
Die Russen ließen die Anlage und die Pflege des kleinen, illegalen Friedhofes im Schützenwäldchen stillschweigend zu, obwohl der Kommandantur der Friedhof und die Gründe für sein Entstehen bekannt waren. Später, etwa 1965/66 wurde Herr Uhrland bei der Pflege der Grabstätte vom Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei ertappt und angewiesen, diese Tätigkeit ab sofort einzustellen.
Der niedrige Holzzaun, der den kleinen Friedhof umgab, kippte in den darauffolgenden Jahren teilweise um, verschwand dann ganz und der Wald holte sich dieses Stückchen Erde zurück.
Die Stelle unterschied sich von dem übrigen Wald bald nur noch durch ihren dichten Efeubewuchs. Der untere Teil des senkrechten Kreuzbalkens stand noch viele Jahre im nachgewachsenen Unterholz. Manchmal war ein Blumenstrauß, etwa in Augenhöhe, an den Balken gebunden.
Die Holztafel mit den Namen war schon lange verschwunden, aber der untere Teil der Aussparung für die Tafel war immer noch zu erkennen. Ich war zuletzt im April 2009 dort, aber den inzwischen schwarzen, senkrechten Restbalken des Kreuzes habe ich nicht mehr gefunden.
Damals ging von vielen Erwachsenen eine Art „Stummes Verbot“ aus, über die Toten im Schützenwäldchen zu reden oder Fragen zu diesem Thema zu stellen. Für die Kinder war dieses Verbot unüberhörbar.
Rückblickend ist dieses Tabu schwer zu erklären und wohl auch nicht beweisbar. Meine Mutter sprach nie von selbst mit mir über dieses Thema; sie beantwortete aber meine Fragen, ohne zu zögern, sachlich, nach bestem Wissen.
Ferdinand Lassalle:
„Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“
Ich vermute, dass ein großer Teil der Rotarmisten, die sich im Krieg und in der Nachkriegszeit zu Straftaten hinreißen ließen, im Alter unter einer großen Gewissensbelastung litten, bzw. noch leiden.
Von ehemaligen Bomberpiloten ist diese seelische Situation bekannt.
Wie alle Großväter lieben die russischen Großväter ihre Enkeltöchter und sie erinnern sich, was sie 1945 getan haben. Und sie denken: „Hoffentlich tut niemals jemand meinen Enkelinnen an, was wir damals den deutschen Frauen und Mädchen angetan haben.“
Sie müssen das denken, das kann gar nicht anders sein.
Ich wünsche ihren Enkelinnen, dass sie solche Qualen und Demütigungen nie erleiden werden.
Es wäre aber besser gewesen, über alles, was geschehen ist, offen zu sprechen, auch über das Unbequeme.
ln jenen Tagen wurde der von den Russen eingesetzte Wilhelmshagener Hilfspolizist Dieter Esdohr nachts in seiner Wohnung getötet. Die Erwachsenen sprachen nur leise und vorsichtig über das schreckliche Ereignis. Vielleicht trug die Angst, ein Wort zu viel zu sagen oder eine falsche Frage zu stellen, dazu bei, dass dieser vermutliche Fememord bis heute nicht aufgeklärt wurde.
Am Tag nach dem Einmarsch der Russen, also am 22. April, begegnete meiner Mutter und mir in der Langfuhrer Allee, vor dem Grundstück meines Onkels, Frau Kleint. Sie weinte sehr, als sie meiner Mutter erzählte, dass die Russen ihren Mann, meinen alten Nachhilfelehrer, Herrn Kleint, erschossen hätten.
Sie berichtete, dass er einen Schrank nicht geöffnet habe, in dem sich Sachen von Verwandten oder Bekannten befanden, die in der Innenstadt wohnten. Wegen der vielen Bombenangriffe hätten sie die Sachen bei der Familie Kleint untergestellt.
Herr Kleint hörte schwer und verstand vielleicht gar nicht, was die Russen wollten. Deshalb wurde er erschossen.
Die in den vergangenen Jahrzehnten fast vergessenen Toten haben alle, auch diejenigen, die sich aus Angst, Verzweiflung, vielleicht auch manchmal aus Scham, das Leben nahmen, ein gemeinsames Schicksal:
Sie waren nicht an Kriegshandlungen beteiligt, hatten niemanden ein Leid zugefügt und verloren doch vorzeitig und gewaltsam ihr Leben.
Das zweite Kreuz


Seit dem 7. Oktober 2010 erinnert das zweite Balkenkreuz an authentischer Stelle mit den Namen von 14 der 17 dort bestatteten Wilhelmshagener, und dazu gehört hier auch der Italiener Bruno, an das Schicksal von Menschen, die einmal unter uns lebten.
Millionen Menschen haben im Krieg in den schrecklichen Lagern, in der Gefangenschaft, in Euthanasie-„Kliniken“, auf Transporten, und auf der Flucht ihr Leben verloren. Niemand weiß, wo sie geblieben sind.
Jeder, den sein Weg zu unserem Gedenkkreuz führt, ist eingeladen, auch der heimatlosen Toten – gleich welcher Nationalität – zu gedenken.
© Wolfgang Gericke | Berlin, im Mai 2015