Der Tieffliegerangriff

An der mit „Tf“ in der Karte markierten Stelle wurden wir etwa im Februar / März 1945 von einem Tiefflieger angegriffen.

Meine Mutter fuhr mit mir - ich saß auf dem Gepäckständer - auf dem Radweg von Wilhelmshagen nach Rahnsdorf zum Bunker (heute NETTO-Grundstück). Wir waren verspätet, eine zu lange Zeit nach dem Ertönen der Alarmsirene, losgefahren. Die Zeit zwischen dem Sirenen-Alarm und der Ankunft der Bomber hatte sich verkürzt. Die alliierten Streitkräfte hatten schon große Teile Westdeutschlands besetzt. Die Flugzeit vom Startplatz bis Berlin reichte noch, um den Luftschutzkeller aufzusuchen, war aber zu knapp für lange Wege.

Der Flieger flog in normaler Höhe über uns hinweg. Plötzlich rief meine Mutter „Der kommt zurück!“. Ich konnte ihn nicht sehen, weil ich dicht hinter meiner Mutter saß, hörte aber, wie das nunmehr laute Geräusch der Flugzeugmotoren uns entgegenkam und ich dachte, dass wir nun von vorn erschossen würden. Ich war ganz erleichtert, als er in geringer Höhe in Gegenrichtung rechts an uns vorbeiflog, ohne dass etwas passierte.

Danach wurde das Motorengeräusch zunächst etwas leiser, schwoll aber zu ohrenbetäubender Lautstärke an, als uns der Flieger knapp über den Baumwipfeln fliegend, nachdem er gewendet hatte, überholte. Der Lärm der Motoren übertönte die Schüsse aus den Bordwaffen, aber von den Chaussee-Bäumen rieselten kleine Zweige herab. Ein Projektil klackte metallisch neben uns auf das Steinpflaster der Fahrbahn, mein Kopf war nach unten geduckt, als ich sah, dass neben dem rechten Fuß meiner Mutter, also neben der rechten Pedale, Sand hochspritzte, wie Wasser, in das ein Stein geworfen wird.

Er hatte uns knapp verfehlt. Er kam zum Glück nicht noch einmal zurück. Glaubte er, dass er uns erwischt hatte? Oder hatte er einfach keine Zeit oder keine Lust mehr, die Jagd fortzusetzen?

Wenn er noch lebt, wahrscheinlich in England, dann ist er ein alter, mindestens 88-jähriger Kriegsveteran. Lieber, alter Pilot, Du hast uns verfehlt. Deine unfreundliche Absicht ist längst verziehen. Ich hoffe sehr, dass Deine letzten Jahre nicht mit dem Gedanken belastet sind, dass Du eine Mutter mit Kind, die bestimmt keine Gefahr für die Royal Airforce darstellte, vom Fahrrad geschossen hast.

Solltest Du durch einen riesengroßen Zufall einmal diese Zeilen lesen, teile ich Dir mit, dass meine Mutter ein gutes Leben hatte. Sie wurde 92 Jahre alt. Ihr Ehemann, meine Vater, kehrte 1948 aus englischer Gefangenschaft zurück.
Das Kind auf dem Gepäckständer ist nun auch schon 78 Jahre alt und würde gern mit Dir, wenn sich die Gelegenheit einmal ergeben sollte, am Tisch sitzen und bei einem oder bei zwei Gläsern Bier ein freundschaftliches Ältere-Herren-Gespräch führen.

 

(c) Wolfgang Gericke | Berlin, im Juni 2015