Am 21. April 1945 erreichte die Rote Armee meinen damaligen Heimatort Wilhelmshagen.
Am nächsten Tag mussten wir das Haus meiner Großeltern vorübergehend verlassen. Mein Großonkel, im selben Ort – damals Langfuhrer Allee 23 – nahm uns auf.
Als wir am Abend Russen mit ihren Stiefeln und Waffen die Treppe zur Souterrainwohnung herunter poltern hörten, wollte sich meine Mutter (34) schnell hinter meinem Bett, zwischen Bett und Wand, verstecken. Als die Russen schon vor der Zimmertür waren, änderte sie ihre Absicht und kroch schnell unter mein Deckbett. Ich war damals acht Jahre alt.
Die drei russischen Soldaten kamen in das Zimmer und schauten zuerst hinter meinem Bett nach. Sie machten meinen Großeltern in gebrochenem Deutsch klar, dass sie die junge Frau suchten. Diese verrieten das Versteck aber nicht. Als sie meinem Opa ins Gesicht schlugen, habe ich mich wohl – starr vor Entsetzen – aufgerichtet. Einer der Soldaten, der sich an der Misshandlung nicht beteiligte, kam zu meinem Bett, drückte mit seiner Hand gegen meine Schulter, so dass ich wieder lag und sagte: „Du schlafen!“. Dann zupfte er das Deckbett zurecht, so dass ich bis zum Hals zugedeckt war.
Vermutlich ahnte er die Wahrheit und schützte so meine Mutter und mich auf eine kluge und vorsichtige Weise.
Die anderen beiden schlugen meinen beharrlich schweigenden Großvater zu Boden, traten ihn und schlugen ihm mit dem Gewehrkolben gegen den Kopf. Er verlor die Besinnung.
Die Russen verließen die Wohnung, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.
Mein Großvater sah am nächsten Morgen durch das geschwollene und verfärbte Gesicht ganz fremd aus. Er konnte sich nicht mehr an meinen Namen erinnern; ich war sein einziger Enkel.
Er lebte bis 1948, war aber verwirrt und hatte sein Gedächtnis seit jener schlimmen Nacht verloren.
Meine Mutter erzählte später, dass sie große Angst hatte, als der Russe an das Bett trat und am Deckbett herumzupfte. Von der Misshandlung meines Opas hatte sie kaum etwas mitbekommen, weil er alles schweigend ertrug. Meine Oma und ich berichteten ihr darüber.
Jene Nacht war schlimmer als in späteren Jahren die schlaflosen Nächte im Stasi-Knast Hohenschönhausen.
(c) Wolfgang Gericke | Berlin, im September 2011